Ziel der Lieder – oder warum singe ich überhaupt?
Es kann einem als Dichter oder Sänger, wie jedem anderen Menschen auch passieren, daß man das Ziel aus den Augen verliert. Wenn man zum Beispiel einen Auftritt vor zwei zahlenden Gästen (und dem Veranstalter) absolviert, oder wenn Zuschauer mit einem bierschwangeren Atem die letzten Sauerstoffmoleküle in Bühnennähe vernichten und besoffen nachfragen, ob man auch „Sweet home…etc..“ spielen kann. Oder wenn man am frühen Morgen dochmal wieder in Versuchung gerät, das Sat 1Frühstücksfernsehen einzuschalten, um erneut die Bestätigung zu bekommen, daß die Menschheit gerade an ihrer Banalität und Schwachsinnigkeit zu Grunde geht…
Man verzweifelt in vielen Situationen an der Welt, singt alleine vor sich hin….
Gibt es in diesen Situationen des Zweifels ein Ziel an, das man aich als Sänger erinnern kann? …um den Sinn nicht ganz aus den Augen zu verlieren?
Antwort: Ja.
Egal, wie stumpf einem die Welt erscheinen mag, oder wie groß die Wut geworden ist…es gibt ein Ziel der Lieder.
Wenn sich die rohe Menge treibt
Im wilden Weltwirrwesen,
Begreift man nicht warum man schreibt
Wenn die das sind die lesen.
Möchte Ihnen man ins Angesicht
Mit Fäusten lieber schlagen,
Weil das nur hilft und andres nicht,
Daß sie nach einem fragen.
Doch wenn im stillen Kämmerlein
Der Geist sich ausruht wieder,
Stellt doch die alte Lust sich ein
Und fordert neue Lieder.
Die Lieder suchen sehnsuchtsvoll
Ihr Ziel in weiter Ferne.
Und wenns kein andres geben soll,
So geben eins die Sterne.
Wohl hab ich hoch im Sternenfeld
Ein Ziel der Lieder wohnen;
Doch weiß ich auch auf Gottes Welt
Dort fern ein andres thronen.
Nach diesem laß ich meinen Sang
Aus voller Seele wandern;
Wenn sie sich freut an seinem Klang
Was frag ich nach euch andern!
Friedrich Rückert